2. Fotografie


2.1. Vorgeschichte -
Die historische Entwicklung der Bildberichterstattung zum Fotojournalismus

Bilder und Bildberichte gibt es nicht erst seit der Fotografie, sie haben vielmehr in allen Kulturen der bekannten Geschichte eine Rolle gespielt. Was in früheren Jahrhunderten jedoch Unikate waren (und somit auch nur einmal verloren gehen konnte, um nie wieder gesehen zu werden) wurde durch die Erfindung des Buchdrucks um die Mitte des 15. Jahrhunderts plötzlich mechanisch reproduzierbar. Anfangs war die Zahl der Produktionen noch gering, doch wurde diese durch neue Erfindungen stets gesteigert. (Q1) Das Flugblatt und die Flugschrift waren lange Zeit die übliche Erscheinungsform der Bildberichte, die im 15. und 16. Jahrhundert mittels Holzschnitt und später dann mittels Kupferstich hergestellt wurden. Große politische Bedeutung erlangten diese Bildberichte wohl erstmals mit der Reformation, in der viele Auseinandersetzungen dem Volk mittels illustrierter Flugblätter nahe gebracht wurden. (Q2) Die ersten periodisch wöchentlich oder täglich erscheinenden Zeitungen verzichteten zunächst auf Bilder, zu Gunsten der Aktualität. Als erste illustrierte Zeitung gilt der ab 1642 in London erscheinende MERCURIUS CIVICUS. Doch waren die Bilder zu Anfang mehr Schmuck als Selbstzweck. (Q3) Wirkliche Abhilfe versprach hier erst der dank verfeinerter Verfahrenstechnik wiederentdeckte Holzschnitt / -stich, den CHARLES KNIGHT 1830 in London mit seinem PENNY MAGAZINE einführte. (Q4)(A3)
Während des Krimkrieges entstand 1855 die Zunft der Kriegskorrespondenten, gefolgt von festangestellten, zeichnenden Korrespondenten in den europäischen Hauptstädten. (Q5) Mit dem DAILY TELEGRAPH entstand, ebenfalls 1855 (14 Tage nach Aufhebung der Zeitungssteuer), das erste tägliche "Groschenblatt". In Deutschland wurde das "Groschenblatt" allen voran durch die BERLINER ILLUSTRIRTE ZEITUNG vertreten, die, 1890 gegründet, ihre Auflage auf eine Million Exemplare im Jahr 1914 und annähernd zwei Millionen im Jahr 1934 steigern konnte. (A4) In der Entwicklungszeit der BERLINER ILLUSTRIRTEN ZEITUNG wurde die Reproduktionstechnik entscheidend verbessert, so daß die Einbindung der Fotografie möglich wurde. (Q6)

Die erste rein mechanisch reproduzierte Fotografie erschien 1880 in einer Zeitung, (Q6a)(A5) es sollte aber noch eine ganze Weile dauern, bis sich das Foto in der Zeitung durchgesetzt hatte. 1881 gelang es dem Lithographen GEORG MEISENBACH, die Autotypie entscheidend zu verbessern und damit der Fotografie den Weg in die Zeitung zu eröffnen. Wochen- und Monatszeitschriften fingen ab 1885 an, Fotografien abzudrucken. (Q7) Als erste Tageszeitung mit einer Fotobeilage erschien in Deutschland 1901 der Berliner TAG. (Q8) Empfindlichere Platten und der Schlitz- bzw. Zentralverschluß ermöglichten kürzere Belichtungszeiten und machten so die Fotografie von sich bewegenden Objekten möglich. Fotografien verdrängten zu nehmend die Zeichnungen. Große drucktechnische Schwierigkeiten bereitete jedoch noch lange Zeit die Einbindung der Fotos in den Textteil der Zeitungen, so daß diese zumeist mit "Photobildbeilagen" erschienen. (A6) Erst durch die Erfindung des Kupfertiefdruckverfahrens im Jahre 1911 konnten Fotografien in der Tagespresse mit Erfolg reproduziert werden. Seltsamerweise verbreitete sich der Bilddruck in den deutschen Tageszeitungen jedoch nur sehr langsam, so daß D'ESTER 1924 dies als den wesentlichen Unterschied zwischen der deutschen und der ausländischen Tagespresse bezeichnen konnte. (Q9) Neben den Neuerungen in der Drucktechnik hatte die Entwicklung des Nachrichtenwesens entscheidenden Anteil, die Aktualität der Bildnachricht zu erhöhen. Während die Fotos zunächst per Post an die Redaktionen gesandt werden mußten, wurde ab 1907 der bei Wortübertragungen schon seit einiger Zeit übliche Telegraph eingesetzt. Als erste richteten 1907 die französische ILLUSTRATION und die englische Tageszeitung THE DAILY MIRROR einen täglichen bildtelegrafischen Dienst zwischen Paris und London ein. Bald darauf wurden auch Übertragungen nach Berlin und Kopenhagen angeschlossen. Fotoagenturen wurden gegründet, eine der ersten 1898 von dem amerikanischen Journalisten GEORGE GRANTHAM BAIN (MONTAUK PHOTO CONCERN), der gemerkt hatte, daß die Fotos, die er mit seinen Berichten verschickte, mehr Nachfrage fanden als seine Artikel. (Q10) Fotoagenturen und Bildtelegraphie machten dann auch Zeitungen wie das Berliner Boulevardblatt TEMPO möglich, das von 1928-33 in täglich drei Ausgaben "Bilder vom Tage" veröffentlichte. Die Fotoagentur KEYSTONE VIEW gab über den Versand von Bildern der Berliner Maifeiern 1929 folgende Daten:

"Aufnahme des Ereignisses in Berlin: 10.30 h
Fertige Abzüge: 10.45 h
Telephonat: 10.55 h
Eintreffen des telegraphisch übertragenen Bildes
in London: 11.30 h
in New York: 17.30 h" (Q11)

Sowohl in London als auch in New York erschienen die Bilder noch am selben Abend in der Presse. Mit der steigenden Verwendung von Fotos in den Zeitungen wuchs auch die Nachfrage nach aktuellen Fotos aus der ganzen Welt. Fotoagenturen schossen wie Pilze aus dem Boden. Sie stellten Fotografen an, schlossen aber vor allem Verträge mit freien Fotografen. (A7)

2.2. Fotojournalismus

Einer der ersten Pressefotografen war der Engländer ROGER FENTON, der 1855 den Krimkrieg fotografierte, allerdings nur die "schöne" Seite. Seine Bilder wurden als Holzschnitte in mehreren amerikanischen, englischen und italienischen Zeitungen veröffentlicht. (Q12)(A7a) Während des kurzen Bestehens der Pariser Commune 1871 ließen sich ihre Verteidiger gerne auf den Barrikaden fotografieren. Fast alle, die auf diesen Bildern von THIERS' Polizei identifiziert werden konnten, wurden standrechtlich erschossen. Damit diente die Fotografie zum ersten Mal in der Geschichte ungewollt der polizeilichen Aufklärung. (Q13)(A8) Der Journalist JACOB A. RIIS und der Soziologe LEWIS W. HINE waren unter den ersten, die die Fotografie als sozialkritisches Instrument einsetzten. Von 1908 -14 fotografierte HINE arbeitende Kinder. Seine Bilder trugen wesentlich zur Revision der amerikanischen Gesetze über Kinderarbeit bei. (A9) In Deutschland fotografierte um die Jahrhundertwende der Zeichner HEINRICH ZILLE die Berliner Hinterhöfe, wodurch uns heute ein Gegenpol zu den "offiziellen" Fotos der Boulevards und offiziellen Anlässe erhalten ist. (Q14) AUGUST SANDER stellte den (unvollständig gebliebenen) Versuch an, die Gesellschaft seiner Zeit repräsentativ in Fotos festzuhalten. Die Pressefotografie als Beruf hatte sich zu dieser Zeit allerdings noch nicht durchgesetzt. Fotografien dienten vornehmlich noch dazu, eine Geschichte zu illustrieren, einem Artikel mehr Überzeugungskraft zu geben. (Q15) RIIS und HINE waren engagierte Amateure. Und trotzdem markieren Fotografen wie sie die Schwelle zum Bildjournalismus, da ihre Bilder selbst zur Geschichte wurden, also den Text verdrängten. (Q16) Eben diese Verdrängung des Textes in die Bildunterschrift, das Bild, das selbst die Geschichte erzählt, wird zumeist als Beginn des Bildjournalismus angesehen. (Q17) Die ersten professionellen Pressefotografen gab es erst, als die Zeitungen begannen, regelmäßig Fotos zu veröffentlichen. Aber sie hatten einen wirklich schlechten Ruf. Das lag vor allem am Magnesiumpulver, das blendendes Licht, Rauch und Gestank verursachte, die Fotografierten zumeist mit bleichen Gesichtern abbildete und hin und wieder Brände und gar Explosionen verursachte. Die ersten Pressefotografen standen mit ihren sperrigen Kameras meistens im Weg, und man merkte an ihren Umgangsformen, daß sie einer anderen Gesellschaftsschicht angehörten als die Abgelichteten und die Journalisten. (Q18) Das änderte sich gegen Ende der zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts mit der Einführung einer "handlicheren" Technik. 1924 wurde die ERMANOX-Kamera auf dem Markt eingeführt, eine Kleinkamera, die auch Innenaufnahmen ermöglichte. (A10) Eine neue Art von Foto grafen trat auf, die von GISÈLE FREUND wie folgt beschrieben wird: "Es sind Gentlemen, die sich weder in ihrer Erziehung noch in der Art, sich zu kleiden und sich zu benehmen, von jenen unterscheiden, die sie photographieren. Wenn Photos an einem Opernabend gemacht werden, auf einem Presseball oder irgendeiner Veranstaltung, wo Frackzwang besteht, erscheinen sie auch im Frack. Sie verfügen über Manieren, sprechen Sprachen und unterscheiden sich nicht mehr von den übrigen Gästen. Der Photograph gehört nicht länger der Klasse subalterner Angestellten an. Er stammt aus der bürgerlichen Gesellschaft oder aus der Aristokratie, die ihren Besitz und ihre politische Stellung verloren hat, jedoch ihren sozialen Status bewahrt." (Q19) Der Bildjournalismus erlebte in Deutschland eine Blütezeit und strahlte Impulse in die ganze Welt aus. Die Zeichnungen verschwanden immer mehr aus den Zeitungen und wurden durch Fotografien abgelöst, die die Aktualität widerspiegeln sollten. DR. ERICH SALOMON fotografierte die "Großen der Welt" in Momenten, in denen sie sich unbeobachtet fühlten, während Konferenzen, Debatten und Sitzungen, und wurde damit zu einer hochbezahlten Institution. Alle seine Bilder trugen seinen Namen, und der Fotograf selbst erlangte zum erstenmal Berühmtheit. (Q20) Mit Zustimmung des Reichstagspräsidenten LÖBE fotografierte SALOMON im Mai 1928 beispielsweise während einer Reichstagssitzung von einem der meist leeren Plätze der Reichsratsmitglieder aus. Nach dem Protest einer sozialdemokratischen Abgeordneten mußte er diesen Platz allerdings aufgeben. Als sich einige Tage später das neugebildete Kabinett HERMANN MÜLLER dem Reichstag vorstellen sollte, bestand die Möglichkeit von der Reichsratsestrade zu fotografieren nicht, da diese voll besetzt war. SALOMON setzte sich deshalb nach Beginn der Regierungserklärung auf den Abgeordnetenplatz des neuen Reichskanzlers. Dem Protest des schräg vor ihm sitzenden Abgeordneten DITTMANN, er sei doch gar kein Sozialdemokrat, er könne sich doch gar nicht hierher setzen, begegnete er mit der Übergabe eines Bildes, auf dem der Protestierende deutlich zu erkennen war. Als sich dieser in das Bild vertiefte, hatte SALOMON die Möglichkeit, in Ruhe zu fotografieren. (Q21)(A11)

KURT KORFF, Chefredakteur der BERLINER ILLUSTRIRTEN ZEITUNG erfand das "geheime" und das "ultrageheime" Foto (das sorgfältig gestellt wurde, wenn es absolut unmöglich war, "geheime" Fotos zu machen). STEFAN LORANT, von der MÜNCHNER ILLUSTRIERTEN PRESSE, lehnte alle gestellten Fotos grundsätzlich ab. Er gilt als Erfinder der Reportage, die eine Geschichte in einer Bilderfolge erzählt.(Q22) Der wohl bekannteste und erfolgreichste Vertreter der Reportagefotografie, die Ende der 20er Jahre aufkam, wurde HANS BAUMANN, der unter dem Namen FELIX H. MAN arbeitete. Seine 1929 entstandene Reportage über den Kurfürstendamm bei Nacht und seine 1931 entstandene Bildreportage über MUSSOLINI sollen ganze Generationen von Fotografen beeinflußt haben. (Q23)

Gleichzeitig wurde die politische Instrumentalisierung der Fotografie vorangetrieben. Schon während des ersten Weltkrieges mußten alle Fotos zunächst an das halbamtliche PRESSE-PHOTO-SYNDIKAT geliefert werden, ab 1916 sorgte dann das militärische BILD- UND FILMAMT dafür, daß keine mißliebigen Fotos veröffentlicht wurden. (Näheres zu den staatlichen Zensurbehörden im Kapitel "3.2. Die politischen Inhalte der Wochenschauen") Während man während des Krieges versuchte, diese Selektion möglichst nicht publik werden zu lassen, bekannten sich nach dem Krieg Zeitungen wie die kommunistisch orientierte ARBEITER ILLUSTRIERTE ZEITUNG, die zwischen 1927 und 1933 zur auflagenstärksten deutschen Illustrierten avancierte, ganz offen zu ihren politischen Zielen (hier: für Sozialismus, gegen Imperialismus und Kolonialismus). Die ARBEITER ILLUSTRIERTE ZEITUNG führte dazu auch ganz neue Ausdrucksmittel ein, beispielsweise die sehr bekannt gewordenen Fotomontagen von HELMUT HERZFELD, unter dem Pseudonym JOHN HEARTFIELD veröffentlicht, oder auch die "Photogedichte", Einzelfotos, die statt einer Bildunterschrift ein literarisches Gedicht hatten. Diese Gedichte wurden zum Teil von bekannten Journalisten wie KURT TUCHOLSKY geschrieben. (Q24)

Wie auch auf vielen anderen Gebieten, so brachten es die Nationalsozialisten auch auf dem Gebiet der politischen Instrumentalisierung der Bilder zu einer traurigen Perfektion. Ebenso wie die übrige Presse wurde auch die Bildberichterstattung gleichgeschaltet, und so fand die blühende Entwicklung des deutschen Fotojournalismus ein recht jähes Ende. Die alteingesessenen Illustrierten, die nach der Machtergreifung weiterbestanden, wurden nach und nach stillgelegt. An ihre Stelle traten neue, nationalsozialistische Bilderblätter. Fast alle berühmten Bildjournalisten emigrierten nach Frankreich, Großbritannien oder in die USA. Einige starben, wie viele der von ihnen abgebildeten, im KZ. (Q25)

GISÈLE FREUND resümiert: "Die Einführung des Photos in der Presse ist ein Phänomen von außerordentlicher Bedeutung. Das Bild verändert die Sehweise der Massen [...] Mit der Photographie öffnet sich ein Fenster zur Welt. Die Gesichter von Personen des öffentlichen Lebens, die Ereignisse, die sich in seinem Land abspielen und auch diejenigen, die außerhalb der Grenzen stattfinden, werden ihm vertraut. [...] Die Photographie leitet das Zeitalter der visuellen Massenmedien ein, als das Einzelportrait durch das kollektive Massenportrait verdrängt wird. Gleichzeitig wird die Photographie zu einem mächtigen Instrument der Propaganda und der Manipulation. Die Bilderwelt wird entsprechend den Interessen jener gestaltet, die die Presse besitzen: die Industrie, das Finanzkapital, die Regierungen." (Q26)

2.3. Exkurs: Die Amateure

Early ad demonstrating the ease of photography
Fotografieren ist so einfach
(History of Kodak)
Die Fotografie erlangte jedoch nicht nur für das Pressewesen große Bedeutung. Ab der Jahrhundertwende wurde die Amateurfotografie zu einem immer größeren Absatzmarkt der entstehenden Fotoindustrie. Seit die Firma KODAK 1888 ihre "Box" mit dem Werbeslogan "Sie drücken nur auf den Knopf, wir machen den Rest" auf den Markt gebracht hatte, fanden die Menschen zunehmend Vergnügen darin, sich und ihre Umgebung abzulichten. So kann man dieses Jahrhundert seit seinem Beginn über eine steigende Anzahl von Fotografien nachvollziehen. (Q27)(A12)

So wurde die Amateurfotografie neben der Pressefotografie zu einer eigenen Quellengattung, die sich nicht nur zur Illustration von Ereignissen eignet, sondern v.a. für die Erforschung des Alltags und der Lebensumstände der "kleinen Leute", für die Auswirkungen der "hohen Politik" auf das Leben des Volkes. Sie kann anders nicht oder nur schwer zu erschließende Zusammenhänge verdeutlichen.

Auf die Bedeutung des neuen Mediums für die Wissenschaft, die es bald schon verstand, es sich zu Nutze zu machen, möchte ich hier nicht näher eingehen.




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